Bei Anne Will ersetzte der Glaube (an die dritte Welle) die Wissenschaft. Die anwesende politische Verantwortungsgemeinschaft (Lindner) folgte kritiklos diesem Glaubensbekenntnis.
Nach dem Gefälligkeitsinterview mit der Kanzlerin vor drei Wochen wollte Anne Will nach der Osterpause wohl mal wieder als richtige Journalistin arbeiten. Jedenfalls tat sie so, als hakte sie nach – was tatsächlich eine der vornehmsten Pflichten des Journalisten ist. Schließlich hatte Angela Merkel in ihrem unnachahmlichen Einzelauftritt erklärt, sie werde nicht weitere „zwei Wochen tatenlos zusehen“, wie sich die Inzidenzzahlen aufbauen. Die sind in der Tat ein bisschen gestiegen, aber konkret ist außer der Absage einer Ministerpräsidentenkonferenz nichts geschehen. Gut also, dass Wills Osterferien vorbei sind und sie nun nachfassen kann.
Nun fragt man üblicherweise bei denen nach, die etwas gesagt haben, aber die Kanzlerin wollte wohl nicht noch einmal ins Studio, und so musste der bedauernswerte Bundeswirtschaftsminister Wills Quengelei ertragen: Warum, so wollte die Groß-Moderatorin wissen, habe die Kanzlerin „nicht Wort gehalten“, als sie eine rasche Änderung des Infektionsschutzgesetzes ankündigte. Peter Altmaier reagierte zurecht genervt: „Die Regierung kann doch die Regeln der Demokratie und des Grundgesetzes nicht außer Kraft setzen.“ Will schien das nicht recht zu verstehen.
Zum Thema „Streit um die 'Bundes-Notbremse' – lässt sich die dritte Welle so brechen?“ hatte die Redaktion neben Altmaier noch die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt, FDP-Chef Christian Lindner und Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) sowie die stets griegrämig dreinblickende Spiegel-Hauptstadtbüroleiterin Melanie Amann und – via Schalte – den Leukämie-Experten Michael Hallek von der Uniklinik Köln aufgeboten. Der Bundeswirtschaftsminister erklärte nach dem Nachhilfeunterricht in Sachen Gesetzgebungsprozess, die Regierung sei bereit zum Handeln, „wo sich eine Notwendigkeit ergibt“. Leider nahm niemand diesen wohl unbeabsichtigt gespielten Ball auf und stellte die Frage aller Fragen: Gibt es überhaupt eine dritte Welle?
Offenbar reichte es, dass der Medizinprofessor erklärte, auf Deutschlands Intensivstationen lägen 5000 Corona-Patienten und schon in „ein bis zwei Wochen“ drohe eine Situation, in der nicht mehr alle Patienten behandelt werden könnten. Auch hier hätte Gelegenheit zum Nachfragen bestanden: Warum gibt es heute mehrere Tausend Intensivbetten weniger als vor einem Jahr? Für die Opposition hätte hier zudem eine wunderbare Gelegenheit bestanden, den Finger in die Wunde fehlerhaften Regierungshandelns zu legen. Zumal der Mediziner assistierte: „Diese Situation ist mit Ansage gekommen. Experten warnen seit Anfang Januar vor der Situation, die wir jetzt haben.“ Also, wo sind die zusätzlichen Betten? Oder ist Kapazitätsaufbau in Krankenhäusern keine Option, wenn man auch einen Lockdown haben kann?
Göring-Echardt und Lindner ließen auch diesen Ball liegen. Die Grüne-Fraktionsvorsitzende forderte stattdessen „nationale Testwochen“ und härtere Auflagen für Unternehmen, Lindner benörgelte das „Fehlen einer nationalen Teststrategie“. Müller will in Zukunft auch mehr testen und impfen und verwies zurecht auf die Kollateralschäden eines erneuten Lockdowns, aber auch er traute sich nicht, das Schreckgespenst der dritten Welle mit den tatsächlich beobachteten Zahlen in Beziehung zu setzen.
Will hoffte dann auf Unterstützung durch die Kollegin vom Spiegel, die durch Ausgangssperren vermeintlich herbeigeführten Gesundheitsschutz wichtiger findet als Bewegungsfreiheit. Aber die musste irgendwann einräumen: „Jetzt habe ich den Faden verloren.“ Wohl nicht nur in der Diskussion, sondern auch beim Nachdenken.
Dabei müsste sie nur ins Ausland schauen, um die richtigen Fragen zu stellen: Bei den österreichischen und Schweizer Nachbarn ist die Inzidenz zwar leicht höher, wird aber nicht mehr als die entscheidende Zahl angesehen. Vor dem Hintergrund, dass die Hauptrisikogruppen durchgeimpft sind und die Krankenhäuser nicht volllaufen, wird dort nun der Weg aus dem Lockdown gesucht, inklusive der Öffnung der Biergärten und Gastterassen. Zudem wird dort von den Verantwortlichen offen ausgesprochen, was auch in Deutschland gilt: Die Modellrechnungen zur Ausbreitung der „Mutanten“ sind offensichtlich nicht zutreffend gewesen.
Warum also, so müsste die Frage doch lauten, brauchen wir dann überhaupt noch einmal einen Lockdown? Ist die Debatte um die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes vielleicht sogar völlig überflüssig?
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(Als Advocatus Diaboli: Peter Schweizer)