Straßenkrawalle wegen ein paar Cent Steuererhöhung auf den Diesel? Das mag man in den CO2-belasteten Redaktionsstuben der „Tagesschau“ oder „heute“ so sehen, glaubhaft ist das nicht. Hinter den Pariser Aufstände steckt sehr viel mehr. Denn obwohl die Regierung Macron ihre Ökosteuererhöhung für ein halbes Jahr aussetzen will, sind weitere Proteste angekündigt. Der Franzose ist anscheinend mit der Gesamtsituation unzufrieden. Und wer ist das nicht in diesem unserem Europa...
Für ein paar Euro zeigt ein Chemnitzer Trunkenbold jederzeit und überall (auch auf Trauermärschen) den Hitlergruß, damit unsere Medien etwas zu berichten haben. Sie haben den Schluckspecht bestimmt gesehen, auf jedem Sender, in jedem Blatt. Rund um die Uhr. Aber von der 80-Jährigen, die in Frankreich eine Tränengasgranate ins Gesicht bekam und danach starb, dürften Sie nicht viel gehört haben. Auch von drei weiteren Todesopfern der Aufstände (New York Times) im Nachbarland nicht. Dafür wissen wir, dass Rechtsradikale und Linksradikale (huch!) an den Ausschreitungen beteiligt gewesen sein sollen. Mehr Rechtsradikale? Mehr Linksradikale? Vielleicht hauptsächlich Linksradikale? (Das liegt nahe, wenn man die Situation in Deutschland betrachtet.)
Die Tagesschau ließ wissen, dass die Regierung Macron nun die Ökosteuer für sechs Monate aussetzen will. Was wenig hilft, denn der Gelb-Westen tragende Franzose, so scheint es, ist mit der Gesamtsituation unzufrieden. Wenn Sie sich wundern, dass fast täglich neue Gruppen der Protestbewegung anschließen, nur weil der Dieselpreis raufgesetzt werden soll, sind Sie womöglich nicht umfassend informiert. Lesen Sie mal einen kleinen Auszug aus dem Forderungskatalog (Kommuniqué an die Volksvertreter) der Gilets Jaunes, charmanterweise „Richtlinien des Volkes“ genannt:
„Null Obdachlosigkeit“, „Mindestlohn von 1.300 Euro netto“, „Förderung der kleinen Geschäfte in den Dörfern und Stadtzentren. Einstellung des Baus großer Einkaufszentren um die Großstädte herum, die den Einzelhandel abwürgen. Kostenlose Parkplätze in den Stadtzentren“.
„Hohe Steuern für die großen Konzerne, geringe Steuern für die kleinen Betriebe.“
Wir sind erst am Anfang. Bei Fünf von 43. Hier kommt nun die Forderung, über die in unseren Medien berichtet wurde:
„Keine Erhöhung der Treibstoffsteuer.“ Die wurde bereits ausgesetzt. Weiter geht’s:
„Keine Rente unter 1.200 Euro“, „Befristete Arbeitsverträge in großen Unternehmen stärker begrenzen“.
„Beseitigung der Ursachen erzwungener Migration“, „Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihr Ursprungsland“. Undundund.
„Sehr nah an der Radikalen Linken“ sei das, schreibt Le Monde und „kompatibel mit der extremen Rechten“. (Klingt nach Italien, Lega vereint mit Cinque Stelle.) Und „weit entfernt von Emmanuel Macron“. Ob dieses „Kommuniqué“ mit den 43 Punkten wirklich die Stimmung im Lande wiedergibt? Die Gilets Jaunes sind weder eine organisierte Bewegung (ideal für Trittbrettfahrer) noch eine Partei (Marcrons Truppe war übrigens auch keine).
Warum wird bei uns nur sehr oberflächlich berichtet? Ganz einfach, hier könnten einige auch auf dumme Gedanken kommen. Rente 1.200 Euro, Mindestlohn 1.300 Euro netto. Aber selbst wenn der Michel sich bei den Forderungen der Gerechtigkeitspartei SPD gut aufgehoben fühlt und selber nicht mehr will als er hat, so dämmert auch dem letzten Schlafschaf: In einem gemeinsamen Europa muss irgendwer die Wünsche der Franzosen (wie auch der Italiener) am Ende bezahlen. Man hört ja schon das Geschrei über die Forderungen aus Rom. Und wie passt das zusammen in einer Europäischen Union, wenn im Elsass der Rentner mindestens 1.200 Euro bekommt, der im Nachbarland nur 450? Da hält die Presse lieber die Füße still. Trotzdem erwarten wir in den nächsten Tagen diese Überschrift: „Scheitert Macron, dann scheitert Europa“.
Wahrscheinlich sind die 43 Punkte nicht alle ernst zu nehmen, vor allem der Folgende nicht, obwohl er der amüsanteste ist: „Jeder gewählte Abgeordnete hat das Recht auf den Durchschnittslohn. Seine Reisekosten werden überprüft und, soweit begründet, erstattet. Er hat das Recht auf Restaurant- und Urlaubsgutscheine.“ Haben wir erwähnt, dass die Einkommen auf 15.000 Euro im Monat begrenzt werden sollen?